Die Brachial Romantische Haus Apotheke
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ANDERES DENKEN
Eine brachialromantische Hiobsbotschaft
oder: Der Klub der Klugen

Es kam nämlich alles zusammen:
der erste Frost,
die Sicherheitsnadel in der Suppe,
der tägliche Kampf im Kleinwagen,
die drei patriotischen Kriegsfilme im Abendprogramm,
der Dachpappe-Engpass,
der marode Alurohrstuhl im Freiluftimbiss –
es kam nämlich alles zusammen.
Die Lockrufe der Südfrucht in Form einer Bananenschale
entrissen ihm die Hufe und ließen ihn
in den Schaukasten der Ortspresse stürzen,
wo ihm die Druckerschwärze der Lage
schwärzlich bewusst wurde.
Noch in derselben Nacht verließ er Haus und Hof
und ließ sich tagsdrauf von der befeindeten Macht
einen Obhut überstülpen.

Noch in derselben Nacht
versammelte sich der Klub der Klugen,
ohne das Morgenrot abzuwarten,
zur Krisensitzung.
Er tagte sozusagen dem Morgenrot entgegen.
„Er ist gegangen!“
„Er hat unseren Trabant verraten.“
„Er hat die dicke Luft gerochen und sich verdünnisiert.
Wir wünschen ihm ehrlich Hals- und Beinbruch!“
Der Klub der Klugen schmollte
und trommelte mit den Nägeln auf dem Sprelacart.
Weil das Morgenrot sich nicht zeigen mochte.

Da trat Anwalt Zugvogel in den Tempel und sprach also:
„Genossen Altkluge!
Bedenkt, wie sagten wir damals,
als es noch Butter auf Marken gab:
Keinen zurücklassen, alle erreichen, jeden mitnehmen!
Sein Schweiß ist das Salz in eurer Suppe!“ –
„Richtig“, sprachen da die Klugen,
„und wenn wir salzlos essen wollen,
sagen wir das unserem Leibkoch selber.“ –
„Seine Heimatliebe ist der Glitzerglitz
auf eurem Heiligenschein!“ –
„Richtig! Und wenn wir im Dunkeln sitzen wollen,
machen wir das Licht selber aus.“ –
„Ich rate euch, Genossen Altkluge,
erklärt unseren Augiasstall zum Reformhaus,
bietet ihm einige Reförmchen an,
und ihr werdet sehen,
er kommt mit fliegenden Fahnen zurück
und scheucht euch die Fliegen von der Platte!“ –
„Reformen? – Hmm.“
Der Klub der Klugen wand sich um die Lehnen.
„Reformen? – Ääääähh.“
Der Klub der Klugen schaute auf
zum Großen Marx-Brother.
„Muss das denn sein?“
Der Klub der Klugen tauschte die Schlipse.

Aber tagsdrauf erschien im ND
(„Neues Denken“)
ein strategischer Aufmarschplan
zur freiheitlichen Umwälzung:
Freiheit ist vor allem die Freiheit der Andersdenkenden.
Deshalb nennen wir unser Zentralorgan ab sofort
nicht mehr ND, sondern AD – „Anderes Denken“.
Dies ist zugleich eine eindeutige Absage an alle,
die uns Reformunfähigkeit anhängen wollen.
Wir zitieren aus den sieben Verordnungen zur neuen
großen Freiheit:

Paragraph 1
Ab sofort ist in der Dübener Heide ein Plätzchen
zur Gewährleistung der Redefreiheit zu reservieren.
Wir erklären den 29. Februar zum Tag der freien Rede
und arbeiten intensiv an der Abschaffung des Schaltjahres,
einem Relikt des Gregorianischen Kalenders.
Sprayer verwirklichen sich im Spraywald,
Kalauer in Calau.

Paragraph 2
Schluss mit dem stumpfsinnigen Schlangestehen
der Menschen in Versorgungslücken und Engpässen!
Ab sofort ist die vorhandene Warendecke
totolottomäßig unter der Bevölkerung auszulosen!
Versorgungskontore zu Losbuden!
Loslaufen, Los kaufen!
Die Ziehung überträgt das Staatliche Fernweh live
mit musikalischem Zuckerguss in Farbe.
Da die Gewinnzahlen alle interessieren,
werden ab sofort die Einschaltquoten nicht mehr
verschämt geheim gehalten.

Paragraph 3
Der transparente Politiker wird zur Steigerung der
Volksnähe ab sofort in Klarsichtbeuteln leben.
Im AD darf eine Klatschspalte eingerichtet werden,
wo die kugelsicheren Westen der Repräsentonkel und
-tanten zu hauchdünnem Blech zerredet werden dürfen.
Zum Beispiel:
Auf der Suche nach Bernstein fand der Genosse Axen
einen Hühnergott.
Günther Mittag am Morgen, Günthi am Mittag,
Günther Nachmittag am Abend.
Erich Mückenberger plädiert
für die Einführung der Fliegenklatsche,
und Gerald Götting schlug den Papst – im Halma.
Die Klatschspalte wird ausschließlich vom
zu gründenden Verband der Skandalkolumnisten betreut.
Aufnahmebedingungen werden rechtzeitig
bekanntgegeben.

Paragraph 4
Schöner unsere Stätten und Gemeinden.
Hofmaler Tübke hat nach zügiger Vollendung des
Bauernkriegspanoramas („Elefantenklo“)
den antifaschistischen Schutzwall zu bemalen.
Weiß grundiert ist er ja bereits.
Das wird ihn endgültig bis zum Jahre 2000 in Schach
halten.
Dreihundert Kilometer Fries immmer an der Wand lang –
das braucht Zeit, das gibt Blasen.
Unter dem Motto „Feindbilder für Jedermann“
wird er Rumpfbilder mit Kopflöchern gestalten,
durch die der Westberliner,
respektive ehemalige DDRler,
seine Rübe stecken kann,
somit ein beredtes Zeugnis von westlicher
Arbeitslosigkeit gibt und von uns in einem einseitigen
Akt humaner Menschlichkeit mit Soljanka gefüttert wird.

Paragraph 5
Zur Erhöhung der Lebensqualität für Randgruppen:
Getreu dem Wahlspruch „Jedem nach seinen
Bedürfnissen – jeder nach seinen Fähigkeiten“
sind die Möglichkeiten für kriminelle Betätigung
auszubauen.
Der einheitliche Autodietrich ist einzuführen – nach
Ablauf des nächsten Fünfjahrplanes auch für Wohnungen,
Gartenlauben und öffentliche Gebäude passend.
Die Störanfälligkeit der Straßenbeleuchtung ist zu
erhöhen.
Die Volkspolizei bekommt ein Auge zugedrückt
und ermäßigten Eintritt bei Veranstaltungen des
Blindenverbandes.

Paragraph 6
Die sexuelle Freiheit nach Feierabend ist anzuschwellen.
Das Schnapprollo wird als natürlicher Feind des Voyeurs
entlarvt und mittels künstlicher Warenverknappung
abgeschafft.
Breiter unsere Nasen hinter den Fensterscheiben der
kollektiven Wollust!
Schöner unsere Nachbarin zwischen Schlüpfer und
Schlafanzug!

Paragraph 7
Dem jugendlichen Opponierbedürfnis ist durch
Marschblockübungen während der Jugendweihstunden
entgegenzukommen.
(Zur Faschingszeit auch vermummt möglich!)
Dem natürlichen Aggressionsbedarf ist mittels
gewaltvoller Filme Rechnung zu tragen.
Ein Jugendobjekt unter Federführung des Dramatikers
Heiner Blut-Müller hat gewaltvolle Drehbücher zu
erstellen, die sich gezielt mit der Umwandlung von
Fleisch zu Hackfleisch zu beschäftigen haben.
Gunther Jämmerlich und Kurt Böwewicht spielen die
Hauptrollen in dem historischen Mehrteiler über die
Wiedereinführung der Daumenschraube.
Zwecks Kanalisierung des Sturm- und Drangpotentials
sind einige günstig gelegene Gewässer künstlich
verschmutzt zu halten und für Ökodemos bereitzustellen.
Die Sicherheitsorgane haben die Mastvieh-Großanlagen
bei der immer schwieriger werdenden Gülleentsorgung
zu unterstützen.
Es ist zu überprüfen, ob bei auftretenden Krawallen
Scheiße im Wasserwerfer nachgenutzt werden kann.
Durch die praktische Geruchsmarkierung von
Aufmüpfigen kann teure westliche Videotechnik
eingespart werden. Der Klub der Klugen hatte sich flexibel gezeigt und erwartete jeden Moment die reuige Rückkehr des
Abgedampften.
(...)
Vergebens.
(...)
Was will er denn noch?

Der Klub der Klugen wand sich erneut um die Lehnen,
verrenkte die Köpfe hilfesuchend zum Großen Marx-
Brother und ließ sich graue Haare wachsen.
Vergebens.

Da trat wiederum Anwalt Zugvogel in den Tempel
und sprach also: „Genossen Altkluge!
Ihr müsst einen von euch öffentlich verabscheuen
und ihm alle Schuld in die Schuhe schieben.
Das Volk will Kopfball spielen!“
Schweren Herzens gingen die Klugen zur Losbude.
Der unglückliche Gewinner wurde gekreuzigt
und mit dem Stein der Weisen gesteinigt.
Das hatte Pepp und kam gut an.

Der Ausgebüxte ließ sich bekehren
und kroch auf den Leim:
„This land is my land,
in Mailand war ich inzwischen,
und ich kann euch sagen,
zu Hause ist es doch am schönsten.“
Aber inzwischen war alles ganz anders geworden.
Er schlief schlecht, weil ihn die Daumenschrauben-
Trilogie so erregt hatte, stellte fest,
dass sein Kleinwagen gestohlen war,
musste zu Fuß gehen,
geriet in eine Ökodemo,
wurde mit Gülle markiert
und empört von der Losbude verjagt,
indem man ihm einige Rollen
überschüssiger Dachpappe ins Genick warf.
Er kam mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus,
musste den Schwestern durchs rollolose Fenster
beim Umziehen zusehen,
bekam eine Dauererektion,
eine platte Nase
und einen stauneoffenen Mund.
Und wer so aussieht,
wird bis an sein Ende nicht mehr froh.
Das wäre ja auch noch schöner.
Und gar nicht mehr auszuhalten.

Beckert/Wolff 10/1989

veröff. in Die Liebe in den Zeiten der Kohlära (1992)

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