Die Brachial Romantische Haus Apotheke
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FAHR AWAY

Der Scheibenwischer schmiert Geziefer übers Glas
Die Kofferklappe schlägt
Die Plüschratte nickt im Fond
Nach vier Kilometern ist der 311er auf achtzig
Es ist gegen sieben – Punkt Sandmännchen vorbei
Gleich kommt Tele-Lotto mit Irmgard Düren
Dresden-Klotzsche auf die Piste
Abzweig Bautzen rechtsrum und unten durch die Brücke Richtung naufwärts
Es regnet – Der Wischer hakt aus
Ranfahren in Freienhufen, Pannenhilfecontainer geschlossen – typisch!
Mal gucken in’n Intershop ob’s Kohlgate gibt?
Kanzlerpaste?
Oh, mein Forumscheck ist weg! –
Gestern in der Kreisleitung hattest du ihn noch!
– Das weiß ich auch! –
Zur Strafe gibst du jetzt einen aus! –
Na gut – zweimal Rührei mit Schinken
Im Stehbuffert zwei rumänische Fernfahrer, die die Kaltmamsell begrapschen –
EH! Wir treten unsere Hühner selber!
Auf Mittelwelle singen Dagmar Frederick und Siegfried Uhlenbrock
Ihr neues Solidaritätslied für den Frieden der Welt

Kehrreim
Fahr, far away
Wir leben noch!
The way is high, die Piste frei
Schlagloch an Loch
Wir halten durch
Es geht voran, und irgendwann
Kommen wir an

Angelsehne an die Wischer, Handbetrieb
Es wird dunkel, neun Uhr durch
Kreuz Schönefeld – Bullenkontrolle
Nein – wir wollen nicht zum Jugendfestival!
Ja – alle Ausweise dabei!
Der Beamte runzelt, Gerdi hat einen PM 12!
Am Ersten Mai an die Tribüne gepinkelt!
Aber wir dürfen trotzdem ungerupft weiterfahren!
Auf den Schock in Rangsdorf ran
Wie die Hasen über die Piste zum Imbiss
Spitzenmäßige Gummiadler
Die Haut steht ganz von alleine
Peter will Tomatenmark holen
Da knallt die Jalousie runter – Bratschluss!

Abzweig Drewitz gradeaus
In Michendorf bissel Schlauch reinhalten – 33er Gemisch
Mal zur Raststätte gucken? –
Oh, alles voll Bundis, die ihren Zwangsumtausch verballern
Aber am Kiosk gibt’s Karo!
Die habn alles hier oben!
Wir sind hier eben nicht in Suhl –
Wieso Suhl?
Naja, Sozialistisch unterentwickeltes Hinter-Land! –
Hör auf mit deinem Quatsch – los, wir gehn noch eene Hirtensuppe reinhirtsen
Frankie bestellt Tomatensaft und kriegt sogar Pfeffer und Salz dazu –
Weil uns die Bedienung für Westler hält
Dann riecht sie den Braten und schwenkt auf normalen Nölton um:
Nehmse Ihre Hufe ausm Gang, Sie sin’ hier nich daheeme!

Abzweig Magdeburg Richtung Süden
Der 311er hüpft über die Asphaltnasen
Die Bemmen glatt wie Kinderarsch
Vorsicht, Heinz! –
Ich passe schon uff
Rumms – geht der Wischer wieder!
Selbstreparaturtaste! Sauber!
Jetzt klemmt der Zigarettenanzünder und keiner hat Hölzer
Hinterm Achtzig-Schild vor Niemegk wird wieder gestoppt
Unterm Tarnnetz – aber wir wissen Bescheid!
Vor uns wird ein Passat abgezockt – Hähähä-Häme!

Der MITROPA-Freisitz ist schon dicht
Keine Grilletta, keine Hölzer
Die Lungen pfeifen, der Ascher klappert, die Plüschratte nickt
Auf DT 64 spielen Uve Schikora und Hans-Jürgen Beyer ihr neues Solidaritätslied für Angela Davis

Kehrreim
Fahr far away ...

Die Elbebrücke – Plaste & Elaste aus Schkopau
Mit hundertzehn über die Bomberpiste bis Bitterfeld
Dann falln wir in Köckern ein
Wie immer von hinten durch die Klos
Dürfen wir noch 'n Stuhl ranstellen? –
Nein!!!! – Fein!
Essen? – Oder was?
Tatar, grauer Eiersalat, Soljanka mit Haut ... na ja, was solls

Schkeuditzer Kreuz
Eh, der Nachschalldämpfer hat’n Schlag weg
Die Halogener muckern auch
Aber in Köckern gab’s Hölzer, und alle lassen Dampf ab
Eh, Sommerbefehl! Mach ma’ Scheibe runter! –
Auf deine Verantwortung!
Die Kurbel bricht ab.
Heinz, es zieht! – Das merk ich ooch!
Mal Osterfeld ranfahren und aufwärmen
Brühe mit Ei und Leberwurschtbrot
Unterm Ladentisch kriegen wir sogar drei Rohre Erlauer Burgunder!
Könnse gleich aufmachen!

Hinter Eisenberg ein viehisches Geschlinger
Zwei Westler müssen voll auf die Klötzer
Vorsicht, Heinz! –
Ich glaube, eine Hinterbemme hat’s entschärft –
Alter, hier ist Transitstrecke – Halteverbot!
Binnen zehn Minuten drei Bullentaxen:
Was halten wir denn hier? Sehn Sie zu, dass Sie weiterkommen!
Der Wagenheber verschwindet im Schweller
Drei Mann springen aufs Radkreuz – bist du nicht willig ...
Rad ab, Rad an, Rad an – Rad ab

Alles total versypht, Hermsdorf ran, Händewaschen
Früh um zwei Schlange vorm Klo im Keller
Die Abortmamsell wischt gerade
Da wir schon mal da sind, fünf Zigeunersteaks mit Krautsalat und Club Cola
Aber Rauchen nur draußen und Geschirr abräumen!
Wir sind hier nicht auf der Fritz Heckert!
Auf DT64 singt Dean Reed sein neues Solilied für Luis Corvalan

Kehrreim
Fahr far away ...

Früh halb drei den Geraer Berg runter macht der Hauptbremszylinder den Arsch hoch
Vorsicht, Heinz, passe uff!
Haben wir Bremsflüssigkeit dabei? –
Wickle Isolierband rum – das geht auch
Pinkelpause vor Meerane – die Club-Cola muss wieder raus
Du, ich glaube, die Lenkerschaltung spinnt
Anfahren im Dritten, alle müssen anschieben und reinspringen
Da waren’s nur noch vier!

Abzweig Karl-Marx-Stadt, Mittweida, Hainichen – die einspurige Brücke
Abzweig Nossen – die Kofferklappe fliegt weg
Du, Heinz, ich glaube, der Kühler tropft
Ich hab ooch schon ganz nasse Füße
Wilsdruff ranfahren, Büchse „Kühlerdicht“ holen
Oh geil, Alter – Muckertreff im Fernfahrerabteil!
Früh um vier hottet hier die ganze Volee rum:
Jürgen Kehrt, Reform, Engerling
Lift kommen grade vom Aschberg
Stern Meißen vom Fichtelberg
Berluc vom Perleberg
Und Jens-Paul vom Wollenberg
Lakomy und die lütte Mann saufen Kommodenlack
Lacky Lack!
Hier gibt’s fast alles! Sind wir hier in Suhl? Gucke nur:
Kali (Kaffeelikör),
Pfeffi (Pfefferminzlikör)
Kiwi (Kirschwhiskylikör)
Soli – (Soljankalikör?)
Stephan Trepte lässt ein ganzes Rohr Meldekorn rein –
Tritt ein in den Dahaharm!
Karat kriegen eine Extrawurst gebraten
Weil ihnen der Ratsherrenwhisky nicht schmeckt,
schließt der Objektleiter extra nochmal das Delikatlager auf
Andreas Holm will einen ausgeben –
Ach nö, lass ma’, von dir nich!
Michael Hansen tröstet ihn
Seine Nancies kriegen Marschbefehl und schlüpfern mit der Puhdys-Parteigruppe ins Dunkel
Da kommt die Freudenberg rein, und alle brüllen:
Ausziehn!!!!
Dann singt die Fischer mit Natschinski ihr neues Solidaritätslied für Ernesto Cardenal

Kehrreim
Fahr, far away

Es wird langsam hell
Dresdner Berg runter – die Kopfdichtung muckert
Heiiiiinnnz! –
Halb so wild, ’nunter rollt er von alleine – gucke nur, wie er absackt!
Und als wir die Möhre gemütlich am Dresdner Hauptbahnhof vorbeischieben wollen
Ist es grade eben 19 Uhr 89, und die Sonderzüge aus der Prager Botschaft kommen an
Rudelweise nasse Sachsen in Genschman-T-Shirts, die unterm Wasserwerfer duschen
Wunderbar! So dreckig kriegen wir die Kiste im Rep-Werk eh nicht abgenommen!
Da fliegt ein Gummiknüppel aus einem Bullen-Sack und zerwamst uns die Frontscheibe – Scheiße!!!
Und wie wir uns umdrehen, klaut uns einer die Rückbank zum Barrikadebauen
Eh, das ist kein Barrikas, das is ein 311er!
Ein aufgebrachter Demonstrant baut uns das Getriebe aus und streut Sand rein.
Überredet – wir ergeben uns!
Es gelingt noch, im Tumult die Plüschratte zu retten
Da fliegen auch schon Pflastersteine und Winkelemente aufs Dach
Freibier wird ausgeschenkt, Bildzeitungen werden verteilt und Heinomusik erklingt

Kehrreim
Fahr, far away

Beckert/Wolff Frühjahr 1989; Endfassung 1993; veröff. auf Der Durchbruch (1996)

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